Der Begriff ,,Imago"

Florian Cramer

c/o Freie Universität Berlin, Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Hüttenweg 9, D-14195 Berlin

April 2000 (Überarbeitete Fassung eines Aufsatzes vom November 1994)

Contents

1  ,,Imago" übersetzen

Nach Bonaventura wird ,,Imago" genannt, ,,was ein anderes ausdrückt und nachahmt".1 Weil Bonaventuras Satz aber selbst ein anderes ausdrückt und damit qua seiner eigenen Bestimmung zum Imago wird, ist die Definition rekursiv, eine mise-en-abîme. Rekonstruiert man die Etymologie von ,,imago", seine Abkunft von den Wörtern imitari und aemulus, ,,nacheifernd", so verflüchtigt sich Bonaventuras Definition sogar in einer Tautologie, denn seine Übersetzung lautete demgemäß: ,,Ein Abbild wird genannt, was ein anderes [...] abbildet." Allein das Prädikat ,,exprimit", mit dem sich Bonaventura als Neulateiner ausweist, führt eine Differenz ein. Die Vorstellung, daß eine imago ,,ausdrückt", also ein Zeichen ist, das sich nicht von einem anderen - einem Signifikat - ableitet, sondern es plastisch hervorbringt, korrespondiert mit der Semantik des althochdeutschen ,,bilidi", der ,,Gestalt" und dem ,,Wunderzeichen", und das Verb ,,biliden", ,,einer Sache Gestalt und Wesen geben".
Somit ist ,,Abbild" eine treffendere deutsche Übersetzung von ,,imago" als ,,Bild". Im Gegensatz zum Englischen und zu den romanischen Sprachen kennt die deutsche Sprache keine neuzeitliche Entsprechung des lateinischen Worts.2
Der Unterschied zwischen ,,imago" und ,,bilidi" besteht in der Moderne fort als Unterschied zwischen ,,image" und ,,Bild".3 So schreibt John Berger in Ways of Seeing: ,,Ein Bild [image] ist eine nachgeschaffene oder reproduzierte Ansicht; es ist eine Erscheinung oder ein Komplex von Erscheinungen, der von Ort und Zeit ihres ursprünglich gegenwärtigen Erscheinens abgelöst und - für Augenblicke oder Jahrhunderte - konserviert wurden".4 Horst Bredekamp hingegen definiert ,,Bild", im Sinne von ,,exprimere" und ,,bilidi", als ,,menschlich gestaltete Umwelt in Form von Architektur, Plastik und Malerei (...), die auf das Verhalten anderer Menschen oder gemeinsam anerkannter Götter bezogen wurde".5
Die Widersprüche beider Definitionen benennen eine Problematik, die sich im Begriff der imago seit der Antike fortschreibt; die Problematik der Repräsentation, von Wahrheit und Legitimierung.6 Die semantischen Facetten der imago - Spiegelung, Bezeichnung, Übersetzung, Metamorphose, Identifikation, Sentenz - die Bonaventuras Definition evoziert, skizzieren dieses Feld. Somit ist nicht nur zu fragen, wie 'imago` übersetzt werden kann, sondern auch, wie 'imago` sich selbst übersetzt.
Obwohl ,,imago" und ,,eikon" etymologisch nicht verwandt sind, gilt ,,imago" als Übersetzung des griechischen Worts. Im Englischen bestehen ,,icon" und ,,image" nebeneinander fort; ,,icon" konnotiert Repräsentation und Ähnlichkeit, ,,image" Reproduktion und Imitation.7Beide englische Wörter verweisen, da sich das altgriechische eikwn sich vom Verb ,,eikenai" (ähneln) ableitet, somit auf ihre jeweilige Etymologie. Bei Computerbetriebssystemen bezeichnet ,,desktop icon" ein Bildschirm-Piktogramm, ,,disk image" hingegen eine Datei, die die binäre Struktur eines Datenträgers konserviert und ihn beliebig replizierbar macht. Peirce definiert ,,icon" als Zeichen, das seinem Bezeichneten äußerlich ähnelt.8
Doch die Bedeutungen des altgriechischen ,,eikon" sind fast so zahlreich wie jene von ,,imago", ,,image" oder ,,Bild". In der Tragödie Die Sieben gegen Theben charakterisiert Aischylos die Feinde des thebanischen Königssohns Eteokles durch ihre bemalten Schilde.9 Tydeus, der erste von ihnen, trägt eine astronomische Darstellung des Kosmos (Vers 387ff.), das der Eteokles in ,,ein Bild [eikon] der Nacht" verwandeln will (Vers 404f.). Auf dem Schild des zweiten prangt
,,ein nackter Feuerträger / In dessen Hand die helle Fackel flammt; er ruft / In goldner Inschrift: 'Brennen muß durch mich die Stadt"` (Vers 433ff.).
Auch der dritte Krieger trägt ein Emblem:
,,Kunstreich mit Wappenbildern ist sein Schild geschmückt: / Auf hoher Leiter Sprossen klimmt ein Mann in Wehr / Hinan zum Feindesturme, den er stürmen will; / In goldner Inschrift Zeichen ruft auch dieser stolz, / Vom Turme stürz' ihn selber nicht der Schlachtengott" (Vers 465ff.).
Der vierte schmückt sich mit dem eingeätzten eikon eines schlangenumwundenen Meeresungeheuers (Vers 491ff.), der fünfte mit einem aufgenageltes Metallrelief der Sphinx (Vers 540ff.), der siebte, Eteokles' Bruder, ein
,,doppelt Wappenzeichen (...) / Denn einen Mann in goldgetriebnem Waffenschmuck / Führt tugendsam-bescheiden eine Frau daher; / Und diese nennt sich Dike, wie die Schrift bezeugt: 'Heimführen will ich diesen Mann, er soll die Stadt / Besitzen und des Vaterhauses alte Macht"` (Vers 643ff.).
Als einziger der Sieben trägt der sechste Kämpfer, der Seher Amphiaraos, ein ,,Schild von blankem Erz" (Vers 590).
Da Eteokles seine Feinde als ,,Prahler" verhöhnt (Vers 480) und man den Bildskeptiker Amphiaraos zum ,,weisesten, / Mutvollsten Mann" (Vers 568f.) erklärt, ist jedes ihrer Bilder ein Trugbild. Es löst die Erwartung einer magischen Übertragung von Götter- oder Tierkräften nicht ein. So fallen im nachmagisch-rational begriffenen Bild von Aischylos' Tragödie Signifikant und Signifikat nicht zusammen, sondern auseinander, während bei Homer noch ein Götterbild ablehnend nach oben blicken und das Opfer verschmähen konnte.10 Weil dieser neue Typus des Abbilds nicht mehr identisch mit dem Abgebildeten und daher keine Wahrheit mehr besitzt, bricht es in eine Vielzahl von Varianten - Plastik, Gravur, Wappen, Landkarte, Emblem mit pictura und subscriptio, Allegorie, Götterbild, Tierbild, magisches Wunschzeichen - auf. Aischylos inszeniert ihren Verlust von Präsenz, indem er die eikones der Kriegerwappen sämtlich in die Sprache der Dialoge verlagert, anstatt sie physisch auf der Bühne zu präsentieren. und sie zudem aus der räumlichen und zeitlichen Distanz von der Figur eines Boten schildern läßt. Als Mikro-Erzählungen verdichten die Wappenbilder die Gesamterzählung. Umgekehrt wird der Text, indem er Abbildungen abbildet und die Mimesis eines Mythos ist, selbst zum eikon.
Das Handwörterbuch der griechischen Sprache beschreibt ,,eikon" analog als sinnliche Darstellung eines Gedankens, als Gleichnis, und, wie beobachtet, als Ebenbild, Statue oder Gemälde, ferner als Erscheinung, Schattenbild oder Spiegelbild.11 Die letzteren Bedeutungen finden sich bei Euripides: Im Herakles ruft eine Witwe ihren Mann an, der ,,im Haus der Schatten [eikones] weilt" ([Euripides 1959], Vers 117), später wirft ,,ein Bild [eikon], wie Pallas anzuschaun'n [sic]" (Vers 1002) Herkules einen Stein auf die Brust, der dadurch einschläft und an seiner Bluttat gehindert wird.

2  Eikon und eidolon

Platon verwirft im Phaidros die sinnliche Welt als bloßes ,,eikon", als Schatten der Ideenwelt.12 Da nur die Ideen wahr seien, sei jede Darstellung falsch. Im Höhlengleichnis fällt das Wort ,,eikon" ausschließlich im Metadiskurs der Dialogpartner und bezieht sich dort auf das Gleichnis als solches.13 Man könnte dies als Ironie des Verfassers lesen, der ja selbst nicht beanspruchen kann, die Wahrheit zu kennen und offenlassen muß, daß seine Theorie ein Trugbild ist. Denn als eikon ist auch sie nur Abglanz des logos.
Die Annahme, Platon habe als erster eine konsistente Philosophie des Bildes entwickelt, relativiert sich bei genauer Lektüre. Der Platon des Timaios betrachtet den Kosmos als Abbild des Urbilds, daher ist auch das Abbild gut.14 Im Phaidros tritt der Widerspruch beider Sichtweisen offen zutage. Der platonische Sokrates erklärt dort zunächst seine Verachtung der Abbildungen und nennt später die Sonne ein eikon des Guten.15 Im Höhlengleichnis wird die Sonne jedoch nicht den Abbildern, sondern der Ideenwelt zugeschrieben. Diese Widersprüche sind auflösbar, sobald man das Höhlengleichnis als Demonstration einer geglückten, ,,guten" Abbildung liest. Zwar kann es den logos nicht denotieren und daher nur das Schattenbild einer Höhle mit dem Schattenbild der Außenwelt vergleichen. Indem es beide Schattenbilder hierarchisiert, führt es aber die relationale Setzung von logos und eidola vor.

3  Das Subjekt als Trugbild

Ovids Metamorphosen nennen Narziß' Spiegelbild nicht ,,imago", sondern ,,imagine formae",16 ,,simulacra" (Vers 431) und ,,imaginis umbra" (Vers 434). Narziß selbst ist also die imago, ihr Schatten an der Wasseroberfläche Abbildung der Abbildung. Der Fluch eines Verschmähten bestimmt ihn, niemanden außer sich selbst lieben zu können (Vers 405), also keine realen, sondern nur imaginäre Subjekt-Objekt-Beziehungen einzugehen. Diese Täuschung manifestiert sich als solche, denn Narziß ist kein Narzißt, er liebt nicht sich selbst, sondern das Trugbild einer anderen Person.
Den Begriff der ,,imago" unterwirft der Erzähler einer gleichsam fingierten Subjekt-Objekt-Dichotomie: Bevor der eigentliche Mythos des Narcissus erzählt wird, spiegeln sich Narziß und Echo ineinander als Personifikationen der visuellen und und der akustischen Imitation. Die beiden Mythen ineinander zu verweben, ist ein Kunstgriff Ovids. Im Moment von Narziß' Selbsterkenntnis schließlich werden ,,imago" und ,,imaginis umbra" wieder identisch. Er ruft ,,me mea fallit imago!" (Vers 463) und scheint sich der Doppeldeutigkeit bewußt, indem er sein Spiegelbild und seinen Körper gleichsam zerstört. Tiresias' Prophezeiung, Narziß werde nur leben, solange er sich selbst nicht erkenne, ,,si se non noverit" (Vers 348), setzt voraus, daß dieses ,,selbst" sich in seiner Bildhaftigkeit erschöpft. Mit der imago ist zugleich Narziß' Subjekt ausgelöscht, und statt einer platonischen Substanz wächst die Blume als Metamorphose der imago; doch ist sie weder hypostatisches Abbild, noch Substrat, sondern indexischer Verweis.

4  Die imago in der römischen Kunsttheorie und Rhetorik

Ovids Spiel mit der Semantik von ,,imago" bezeugt Konjunktur und Bandbreite des Begriffs in der römischen Literatur. ,,Imago" übernimmt die Bedeutungen von ,,eikon" und gewinnt weitere hinzu. Ein architektonischer Grundriß oder ein Seemanöver kann ,,imago" heißen.17 Vor allem in Kunsttheorie und Rhetorik differenziert sich die Semantik von ,,imago" weiter aus.

4.1  Imagines maiorum

Die Kunsttheorie der Neuzeit ersetzt den antiken Begriff der ,,imagines maiorum" durch ,,effigies". Gemeint sind in beiden Fällen Totenmasken oder Totenpuppen, die nach dem Körper des Verstorbenen modelliert sind. Im antiken Rom ist es Brauch, eine Leiche bis zu eine Woche lang nach dem Tod auszustellen. Um ihre Verwesung zu kaschieren, wird eine Wachsmaske auf das Gesicht gelegt oder ein Scheinleib aufgestellt.18 Die Wachsmaske ist zumeist von einem Gipsabdruck abgegossen. Die Leiche oder die Puppe wird zum Forum getragen, wo die Nachkommen eine Rede auf den Verstorbenen halten. Danach wird die imago in einem Schrein im Hause der Familie aufbewahrt. Den Masken ist eine Inschrift angefügt, die in Versform Namen und Taten des Toten erwähnen.19
So sind die imagines maiorum zunächst einfache Reproduktionen, dann Stellvertreterobjekte, die den Verstorbenen die symbolische Teilnahme und äußerliche Präsenz während seines Begräbnisses erlauben, und schließlich kodifizierte Signaturen der Erinnerung und der Familienidentität. Solche Ahnenbilder anfertigen zu lassen und aufzubewahren, war Privileg des patrizischen Beamtentums und wurde durch ein ius imaginis geregelt.20

4.2  Imaginum pictura

Im zweiten Kapitel des 35. Buchs seiner ,,naturalis historiae" erwähnt Plinius der Ältere eine ,,imaginum pictura",21 mit der offenbar nicht die der imagines maiorum gemeint ist, sondern eine säkulare Porträtkunst, in der sowohl Gemälde auf metallenem Grund, als auch Standbilder verfertigt werden: ,,Durch die Bildnismalerei wurden Gestalten so ähnlich wie möglich der Nachwelt überliefert: sie ist aber völlig abgekommen".22 Im folgenden verwendet Plinius ,,imago", ,,figura", ,,statua" und ,,effigies" synonym und benutzt die Mehrdeutigkeit von ,,imago" zu satirischen Spitzen gegen die imaginum pictura, wenn er von ,,imagines pecuniae" spricht (XXXV, 5) und statt ihrer ,,animorum imagines" (XXXV, 6) fordert.

4.3  Imaginarii

Imaginarii oder imaginiferi (gr. eikonikoi) werden Fürsten genannt, die an der Spitze einer Legion oder Kohorte reiten und Fahnen mit dem Brustbild eines regierenden oder verstorbenen Caesaren tragen.

4.4  Mnemotechnische imagines

Zwar sind ,,eikon" und ,,imago" sind keine termini technici der Rhetorik. Lausbergs Handbuch der literarischen Rhetorik etwa weist sie nicht aus. Jedoch spricht Aristoteles von bildlicher Rede und meint damit rhetorische Figuren im Sinne der Gedankentropen, und die Rhetorica ad Herrenium nennt den metaphorischen Vergleich ,,imago",23 der bei Lausberg unter den Topos der similitudo subsumiert wird.24 Eine rhetorische Theorie der imago existiert allerdings in ihrem - nur fragmentarisch überlieferten - vierten Teil, der memoria.
Der Legende nach geht die rhetorische Mnemotechnik auf den Dichter Simonides zurück, der einen Hauseinsturz während eines Gastmahls überlebt und tags darauf die Identität der verstümmelten Leichen anhand der Sitzordnung rekonstruiert. In Ermangelung preiswerter Aufschreibesysteme memorieren die antiken Rhetoren den Aufbau ihrer Reden im Kopf und bedienen sich dabei der Methode des Simonides, imagines, also visuelle Vorstellungen der Gegenstände der Rede, an den loci eines imaginierten Gebäudes abzulegen und beim Sprechen dieses Gebäude mental wieder abzuschreiten, um die Gegenstände konsekutiv aufzulesen.
Zwar liegt der antiken Mnemotechnik die Annahme zugrunde, daß räumlich-visuelle Eindrücke leichter memoriert werden als Sprache, doch erschöpft sich die Funktion der imagines darin, Namen und Begriffe zu indizieren. Diese Indizierung geschieht nicht durch eine konventionelle Zuordnung von Wort und Bild als Signifikat und Signifikant, die spätestens an abstrakten Begriffen scheitern würde, sondern konstruiert die ,,imagines" mit einer abundanten Fülle tropischer Verfahren. Die Rhetorica ad Herennium veranschaulicht ihre Praxis:
,,Oft können wir einen ganzen Themenkomplex auf eine Notiz reduzieren und in ein einfaches Bild (imago) verdichten. Zum Beispiel hat der Ankläger uns den Fall eines Angeklagten geschildert, der einen Mann vergiftet hat; er hat als Tatmotiv eine Erbschaft genannt und den Verdacht auf einer Vielzahl von Zeugen (testes) und Indizien begründet. Wenn wir für unsere Verteidigung uns diesen ersten Punkt merken wollen, so müssen wir an unserem ersten Ort (locus) ein Bild (imago) ablegen. Wir stellen uns das Opfer der Tat krank im Bett liegend vor, wenn wir wissen, wie er aussieht. Wissen wir es nicht, so nehmen wir jemand anderes als Kranken, aber niemanden aus der Unterklasse, damit er uns sofort wieder einfällt. Und neben das Bett setzen wir den Angeklagten, der in seiner rechten Hand einen Becher, in seiner linken ein Tablett und in der Mitte die Hoden (testiculos) eines Widders hält."25
Diese imago verdichtet nicht nur den Fall auf ein tableau, sie verbirgt in sich eine mehrfache imago, die nicht piktorial, sondern onomatopoetisch und synekdochisch denotiert. Die Widderhoden, ,,testiculi", vergegenwärtigen dem Verteidiger die Zeugen - ,,testes" - der Anklage. Da Geldbörsen oft aus Hodensäcken von Widdern gefertigt wurden, erinnern sie ihn zudem an die erschlichene Erbschaft, eventuell sogar daran, die Zeugen zu bestechen.26
In der Mnemotechnik wird die imago zwar zur Vorstellung, zum Gedankenbild, gewinnt dadurch jedoch keine Autonomie, denn der imaginierte Raum wird allein von der Rede strukturiert. Statt sich, wie auf Aischylos' Kriegerwappen oder bei den imagines maiorum, wechselseitig zu ergänzen, werden Wort und Bild in der memoria zu Denotationssystemen, zwischen denen eindeutig und verlustfrei übersetzt werden kann. Dabei nimmt das Wort die Rolle des Leitmediums ein, das Bild wird zu seinem Abbild und damit zur Sekundärschrift: ,,Denn die loci ähneln Wachstafeln und dem Papyrus, die imagines den Buchstaben, die Anordnung der imagines dem Manuskript, und ihr Aufsammeln dem Lesen".27

5  Eikon als Emanation und imago dei

Die Kosmologien des Neuplatonismus gehen über Platon hinaus, indem sie nicht mehr eine - wie immer aufgefächerte - Dichotomie von logos und eikon bzw. Idee und Idol annehmen, sondern eine Vielzahl hierarchisch gegliederter Hypostasen, in die der Logos emaniert. Nach Plotin ist jede Hypostase eikon (imago) einer übergeordneten Hypostasen und somit abgeleitetes eikon des Höchsten.28 Also bestimmt Ähnlichkeit die Relationen der Hypostasen untereinander, und der Mensch ist, im Gegensatz zur Lehre Platons, selbst Emanation und imago des logos. Besonders im Neuplatonismus der Renaissance erfährt die imago, aus umgekehrtem Blickwinkel, höchste Wertschätzung, weil sie dem Menschen erlaubt, höhere Sphären einzusehen und an körperloser Schönheit zu partizipieren.29
Nur scheinbar koinzidiert die neuplatonische Hypostasenlehre mit der christlichen Anthropologie, der ein ähnliches Abbildungsmodell zugrundliegt. Christus ist die imago des Vaters, der gläubige Christ die imago Christi.30 Im Gegensatz zum Platonismus begreift das Christentum den Menschen, nicht den Kosmos als imago Gottes. Die Vorstellung, daß Söhne eikones oder imagines ihrer Väter seien, ist schon in der griechischen Hochantike verbreitet und findet sich gleichfalls in der alttestamentarischen Vorstellung, daß Adam die Ähnlichkeit mit dem Antlitz Gottes an seine Nachkommen vererbt (1 Mos. 5,1-3). So heißt es in 1 Mos. 1,27 und 1 Mos. 9,6, der Mensch sei nach dem Bild Gottes geschaffen. Adam und nicht Christus wäre demnach der Sohn Gottes, was mit dem christlichen Abbildmodell kollidiert, aber auch mit Paulus' Vorstellung, daß dem Menschen die Ähnlichkeit mit Gott nicht natürlich gegeben sei, sondern er sie erst gewinnen müsse, indem er Abbild Christi (1 Kor. 15,49) und schließlich Abbild des Vaters werde.31 Die Vulgata versucht dieses Problem zu umgehen, indem sie die Gottesähnlichkeit in der Genesis als ,,ad imaginem dei" übersetzt. Irenäus löst es schließlich, indem er die Begriffe imago und similitudo voneinander trennt. Jeder Mensch sei eine imago dei, similitudo aber besäßen nur getaufte Christen. Diese Bedeutungsdifferenzierung, undenkbar in der Hochantike, weist voraus auf die eingangs zitierte scholastische Lehrmeinung, der zufolge ,,imitare" nur eins von zwei Attributen der ,,imago" sei.
Postuliert Hugo von St. Viktor noch den Aufstieg der Seele ,,zur Wahrheit des Unsichtbaren [...] durch die Betrachtung des Sichtbaren" auf der Basis eines platonischen Modells der ,,sichtbaren Schönheit als imago der unsichtbaren Schönheit",32 so wird der Begriff der imago bei späteren Denkern des Mittelalters abgewandelt. Nicht nur Bonaventura fügt der ,,similitudo" die ,,expressio" als zweite Eigenschaft der imago hinzu, auch Meister Eckhart und Thomas von Aquin verwenden diese Doppeldefinition. Meister Eckhart bezeichnet die ,,imago" als vollständiges Abbild ihres Gegenstands, die ihm nichts wegnimmt und nichts hinzufügt und zugleich sein formaler Ausdruck (,,formalis expressio") ist.33 In diesem Sinne ist die imago nicht mehr von einem Signifikat abgeleitet, sondern mit ihm identisch. Diese Neudefinition wird nötig, weil für die Scholastiker ,,imago" mit Christus synonym ist und in Augustinus' Traktat über die Dreifaltigkeit steht:
,,Mit dem Schriftwort: 'Im Anfang war das Wort`, kann gemeint sein: Im Vater war das Wort; oder: Vor allem anderen war das Wort. In der Fortsetzung: 'Und das Wort war bei Gott`, steht Wort allein für den Sohn, nicht zugleich für Vater und Sohn, als ob beide ein Wort wären. Wort steht im gleichen Sinne wie Bild [imago]. Nun sind aber Vater und Sohn nicht zwei Bilder, sondern der Sohn allein ist das Bild des Vaters, ebenso wie Er allein Sohn ist; es sind ja nicht beide zugleich Sohn".34
Zwar ist hier allein vom Abbildungsverhältnis zwischen Vater und Sohn die Rede und nicht von einem dritten, menschlichen Subjekt. Weil die Scholastik Augustinus jedoch apodiktisch liest, gesteht Thomas von Aquin allein Christus das Attribut der imago dei zu. Um die Lehrmeinung des Johannes von Damaskus, der Heiligen Geist sei eine ,,imago Filii", und Paulus' Definition des Menschen als ,,imago Dei" nicht zu unterlaufen, konstruiert Thomas eine ,,Imago" mit großem Anfangs-,,i", die angeblich der lateinischen und nicht der griechischen Semantik verpflichtet sei und ausschließlich den Sohn beschreibe.35 In einer Fußnote unterscheidet Thomas eine imago der natürlichen Abstammung von einer imago der künstlichen Nachahmung, um schließlich das Abbild Gottes im Menschen als ,,imago imperfecta" sowie die Identität des Gottesvaters und seines Sohnes als ,,imago perfecta" festzuschreiben.36 Die Ironie dieser Setzung ist, daß sie das Konzept einer selbstidentischen imago nur um den Preis einer Spaltung formulieren kann, die das neugewonnene Begriffspaar als Tautologie in seiner ersten und als Oxymoron in seiner zweiten Variante erscheinen läßt.
Indem es die mittelalterliche Philosophie unterläßt, ,,imago", ,,pictura" und ,,forma" zu unterscheiden, vermischt sie ,,imago" mit dem mittelhochdeutschen ,,bilde" und kreiert damit einen Widerspruch, der bis heute fortexistiert. Mit ihren Filiationen zeigt die Begriffsgeschichte von ,,eikon" und ,,imago", daß das Problem der Darstellung, des Verhältnisses von Signifikant und Signifikat, bereits ihre Definitionen affiziert und somit das Verhältnis des Signifikanten zu sich selbst.

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Fußnoten

1Bonaventura, Sent., I, XXXI, ,,Dicitur imago quod alterum exprimit et imitatur", zitiert nach [Pochat 1986], S.170
2In der Biologie bezeichnet ,,imago" ein geschlechtsreifes Vollinsekt, das sich, von der ,,Imaginalscheibe" gesteuert, aus einer vormaligen Larve entwickelt hat.
3Eine systematische philosophische Begriffsbestimmung des Bildbegriffs versucht [Gadamer 1965], S. 128-137
4[Berger 1974], S.9f
5[Bredekamp 1975], S.10
6Vgl. [Gadamer 1965], S.134f.
7nach Webster's Ninth New Collegiate Dictionary, 1991 (ohne Ortsangabe)
8[], S. 184, schließt an die poststrukturalistische Kritik der strukturalistischen und pragmatistischen Semiotik an, wenn er schreibt: ,,Diese Definition des ikonischen Zeichens, das vielfach mit dem Bild überhaupt gleichgesetzt wird, ist problematisch. Denn sie geht von der positivistischen Annahme aus, man könne wissen, was die 'Realität` (das Referenzobjekt) ist".
9[Aischylos 1961], S. 43-81
10[Homer 1975], Sechster Gesang, Vers 301ff.
11[Panow 1970], Bd. 1,II, Abschnitt eikwn
12Platon, Phaidros, 250b, in: [Platon 1959]
13Platon, Politeia, Siebentes Buch, in: [Platon 1963-3], von Schleiermacher durchgängig übersetzt als ,,Bild"; 515 a, ,,Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene", 517 b, ,,Dieses ganze Bild nun, sagte ich, lieber Glaukon, mußt du mit dem früher Gesagten verbinden", 517 d, ,,(...) denn so ist es ja natürlich, wenn sich dies nach dem vorher aufgestellten Bilde verhält"
14Platon, Timaios, 29b, in: [Platon 1963-5], S. 154: ,,So also entstanden, ist sie [die Welt, Anm.] nach dem durch Nachdenken und Vernunft zu Erfassenden und stets sich Gleichbleibenden auferbaut; da sich aber dies so verhält, ist es durchaus notwendig, daß diese Welt von etwas ein Abbild sei. [...] So nun muß man sich in Hinsicht auf das Abbild und sein Vorbild erklären, daß jeweils die Reden, wessen Ausleger sie sind, eben dem auch verwandt sind"
15Phaidros, 509a, in [Platon 1959]
16[Ovid 1992], Vers 416, S. 108
17Nach [Georges 1969]. (Der Verfasser nennt als Quelle Caesar, ohne eine Textstelle zu spezifizieren.)
18Plinius, Naturalis historiae, liber XXXV, 6, zitiert nach: [Plinius 1978]
19[Plinius 1978], XXXV, 7
20Später konnten aufgestiegene Plebejer (,,homines novi") dieses Recht für sich in Anspruch nehmen. Tacitus schildert dies im Dialogus de oratoribus: ,,minimum inter tot ac tanta locum obtinent imagines ac tituli et statuae, quae neque ipsa tamen negleguntur", [Tacitus 1979], Abschnitt 8, S. 16f.
21[Plinius 1978], XXXV, 4
22[Plinius 1978], XXXV, 4, ,,Imaginem quidem pictura, qua maxime similes in aevum propagabantur figurae: in totum exolevit"
23[Ad Herrennium 1984], IV, XLIX, 62, ,,Imago est formae cum forma cum quadam similitudine conlatio"
24[Lausberg 1963], §401, S. 132
25[Ad Herrennium 1984], III, xx, 34 (meine Übersetzung)
26Nach dem Kommentar in [Ad Herrennium 1984], S. 215
27[Ad Herrennium 1984], III, xvii, 30 (meine Übersetzung)
28Plotin, 5. Enneade, 36f., nach der Ausgabe [Plotinus 1956]
29[Ficino 1984], S. 138
30[Vulgata 1959], 2 Kor. 4,4, ,,qui est imago dei" und Röm. 8,29, ,,Nam quos praescivit, et praedestinavit conformes fieri imaginis Filii sui"
312 Kor 3,18, ,,Nos vero omnes revelata facie gloriam Domini speculantes, in eamdem imaginem transformamu a claritate in claritatem, tanquam a Domini Spiritu"
32,,Non potest noster animus ad invisibilium ipsorum veritatem ascendere, nisi per visibilium considerationem eruditus, ita videlicet, ut arbitretur visibiles formas esse imaginationes invisibilis pulchritudinis. Quia enim in formis rerum visibilium pulchritudo earumdem consistit, congrue ex formis visibilibus invisibilem pulchritudinem demonstrari debet, quoniam visibilis pulchritudo invisibilis pulchritudinis imago est", zitiert nach [Assunto 1963], S. 156
33,,Primum est, si sit perfecta, quod nihil sibi prorsus desit eius cuius est ymago", zitiert nach [Assunto 1963], S. 160
34[Augustinus 1981], 6,2,3
35[Thomas 1939], Bd.3, Articulus II, 1-3, S. 154f.
36[Thomas 1939], S. 157